Schreiben kann jeder

Im Sommer 2015 wurde mir und meinem Mann eine ganz besondere Ehre zuteil: wir durften höchstpersönlich an einer privaten Grillparty unseres italienischen Stammlokals teilnehmen. Es war ein herrlicher Spätsommertag und es gab Original Florentiner Bistecca vom Grill.

Es war also alles wunderbar, aber seitdem kann eine Nachbarin, die ebenfalls dort war, mich nicht mehr leiden.

Warum?

Sie erzählte beim Aperitif, dass sie zwar im Büro arbeite, aber hauptberuflich Schriftstellerin sei. Ehe ich fragen konnte, in welchem Verlag denn ihre Werke erschienen seien, war sie schon fleißig am erzählen. Es sei so toll, sich nach der Arbeit entspannt an einen Schreibtisch zu setzen und der Phantasie freien Lauf zu lassen. Sie schreibe Fantasy-Romane unter einem Pseudonym und veröffentliche sie über Printing On Demand. Da würde dann eine Ausgabe des Buches erst gedruckt werden, wenn eine Bestellung bei Amazon eingänge. Das sei so schön praktisch. Und Ich sagte dazu nichts. Das war mein Fehler. Wie sensibel Menschen sind, die schreiben, wusste ich damals schon. Schließlich schrieb ich selbst Bücher. Insofern war ich froh, dass ich mir die Verlagsfrage verkniffen hatte. Aber ich war sprachlos, mit welchem Selbstbewusstsein meine Nachbarin raushaute, sie sei Schriftstellerin. Genauso sprachlos war ich jahrelang über neue Autoren bei Achgut, die ihren ersten Text veröffentlicht hatten und dann sofort im Internet herausschrien: Hurra! Ich hab meinen ersten Artikel veröffentlicht! Jetzt bin ich Journalist!

Vermutlich sind sie einfach schneller als ich. Ich brauchte Jahre, bevor ich es wagte, meine Veröffentlichungen bei Achgut als Artikel zu bezeichnen. Und noch länger dauerte es, bis ich den Mut hatte, mich selbst Publizistin zu nennen. Bis eines Tages eine Kollegin mitteilte, dass der Begriff des Journalisten keineswegs geschützt sei und ich mich gerne so nennen durfte, wenn ich es wolle.

Selbst nach zwei publizierten Büchern, die beide nicht von mir selbst gestaltet oder verlegt oder vertrieben wurden, traue ich mich noch nicht, mich als Schriftstellerin zu bezeichnen. Ich bevorzuge das weniger problematische „Autorin“.

Egal wie: Schriftsteller, Autoren, Publizisten gibt es heute so viele wie nie zuvor. Das Internet macht’s möglich. Um heutzutage ein Buch zu publizieren und in den Handel zu bringen, braucht man keinen Sponsoren mehr. Auch keinen Verlag. Man kann alles einfach selbst machen. Ein Traum. So manches Mal bin ich bei Amazon schon über die seltsamsten Bücher von Selbstpublizierern gestolpert. Da war das wundervolle Werk „Gebrauchsanweisung für die afrikanische Frau“, offenbar von einem naiven alten weißen Mann verfasst, dass so von Sexismus und übelstem Rassismus strotzte, dass einem übel werden konnte. Ein anderes Mal stieß ich auf den Roman eines kleinen Lokalreporters, in dem er sich selbst zum Helden stilisierte und quasi zwischen Einsteigen und Verlassen eines Flugzeugs das Nahostproblem gelöst hatte. Amüsant war es schon.

Und dennoch träumen so viele Menschen den Traum vom eigenen Buch, in einem richtigen seriösen Verlag publiziert, viel gelesen und hoch gelobt. Diesen Traum nicht zu verwirklichen, das kann sehr, sehr weh tun. Ich spreche aus Erfahrung. Ich war manchmal so frustriert von der erfolglosen Suche nach Agenturen und Verlagen, dass ich mehr als einmal drauf und dran war, alles hinzuschmeißen. Und natürlich war meine Begeisterung für Kollegen, die gerade wieder den großen Spiegel-Bestseller gelandet hatten gelegentlich nicht sehr groß. Aber meistens freute ich mich eben doch mit Ihnen. Ich wäre niemals so weit gesunken, sie und ihre Schreibe persönlich zu attackieren. Jeder Autor fühlt sich durch unsachliche, vernichtende Kritik zurecht gestört. Je unsachlicher und vernichtender die Kritik ist, desto sicherer steckt dahinter einen anderer Autor. Und zwar ein gescheiterter. Aber nicht unbedingt. Es kann auch ein sehr erfolgreicher sein, der einfach keine anderen neben sich dulden mag. Beispiele dafür sind in der Literaturgeschichte Legion.

Dank Internet und social media haben solche Menschen es heute einfacher. Da kann man ganz einfach anonym die Bücher des Kollegen öffentlichem Grund und Boden rammen, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Und wie alle Menschen, die selbst übersensibel sind, können sie es dann nicht fassen, wenn der so Angegangene zurecht unangenehm reagiert. Jeder kennt sowas. Leute, die einem offen ihren Hass und ihre Verachtung ins Gesicht kotzen und dann anschließend noch sagen: Mensch, du musst auch mal ein bisschen Kritik vertragen können.

Kritik muss ein Autor vertragen können. Das ist allerdings mehr als wahr. Grundsätzlich sollte man sowieso nicht erwarten, das ein Buch jedem gefällt. Dafür sind die Geschmäcker zu verschieden. Natürlich gibt es immer Kriterien für gute Literatur und für schlechte Literatur, aber eben auch die schlechte Literatur hat eine begeisterte Anhängerschaft. Der große Marcel Reich-Ranicky seligen Angedenkens hat gesagt: ein Buch ist gut, wenn es mich gut unterhält. Aber selbstverständlich gibt es einen Riesenunterschied zwischen konstruktiver Kritik und niederschmetternder Beleidigung. Den sollte man als Autor kennen. Man sollte wissen, ob jemand einem helfen oder einen niedermachen will. Und helfen lassen sollte man sich immer.

Man sollte als Leser auch nicht erwarten, dass Autoren übermäßig glücklich sind, wenn man sie auf Fehler im längst gedruckten Werk aufmerksam macht, denn für gewöhnlich lassen die sich nicht mehr korrigieren. Vor Erscheinen ist das noch ganz was anderes. Hinterher ist man immer schlauer. Ich denke, ich kann mit gutem Gewissen einige goldene Regeln formulieren, die Autoren und denen, die es werden wollen weiterhelfen können:

– Wenn Sie schreiben wollen, dann schreiben Sie. Schreiben ist ein wundervolles Hobby. Mich erinnert es immer an die glücklichen Stunden der Kindheit, indem man sich so in ein Spiel verloren hat, dass man darüber Zeit und Stunde vergessen hat. Schreiben Sie in erster Linie für sich.

– Wenn Sie Ihr Buch veröffentlichen wollen, dann lassen Sie es von mehr Personen lesen, als der eigene Familien und Bekanntenkreis bietet. Ich hatte das seltene Glück, dass schon Familien- und Bekanntenkreis mehr als kritisch war. Aber das war gut. Lassen Sie darüber hinaus auch möglichst eine Person das Buch lesen, die etwas von Lektoratsarbeit versteht. Sie können dabei nur gewinnen.

– Schreibkurse können hilfreich sein, müssen es aber nicht. Es gibt mittlerweile auch viele gute Sachbücher zum Thema kreatives Schreiben und zum Schreiben von Exposés, mit denen Sie sich an Verlage wenden können.

– Wie hast du bloß einen Verlag gefunden? Das ist die häufigste Frage, die man als Autor zu hören bekommt. Ich würde von folgender Prämisse ausgehen: wenn Sie ein gutes Buch geschrieben haben, das Hand und Fuß hat und die Voraussetzung, dass vermutlich viele Leute es lesen wollen, dann finden Sie auch einen Verleger.

– Rechnen sie aber bitte damit, dass dies u.U. sehr, sehr lange dauern wird.

„Harry Potter“ bot die Autorin an wie sauer Bier. Die Tierarztgeschichten des wundervollen schottischen Schriftstellers James Herriot wollte geschlagene zehn Jahre lang niemand haben.

Sie brauchen leider Geduld und Hartnäckigkeit. Was mich bei der Stange gehalten hat war, dass der eine oder andere Verlag oder die eine oder andere Agentur sich positiv zurückgemeldet hat:

„Dass Sie schreiben können ist gar keine Frage, aber…“; der Rowohlt Verlag meldete sich durch einen Lektor, der äußerte, er hätte dieses Projekt sehr gern realisiert, habe sich aber leider nicht durchsetzen können. Das war immerhin schon etwas. Trotzdem brauchte ich einen langen Atem. Eine Literaturagentur habe ich leider bis heute nicht, dafür aber immerhin einen feinen, kleinen Verlage gefunden. Hält man sein Buch erst mal in der Hand, weiß man:

Das war es wert.

Renée ist Judy!

Was haben Frida Kahlo, Franziska Gräfin zu Reventlow und Judy Garland gemeinsam?

Abgesehen davon, dass sie, jede auf ihre sehr spezielle Art, alle Künstlerinnen waren, starben sie alle viel zu früh. Und alle mit 47 Jahren.

Ein furchtbares Alter ohnehin, aber dennoch kein Grund, um abzutreten. Es sei denn, widrige Umstände zwingen dazu.

Bei Judy Garland waren die Umstände widrig. Wie widrig, das erfährt der Kinobesucher in kleinen Portionen in dem biographischen Film „Judy“, der der Hauptdarstellerin Renée Zellweger schon den verdienten Golden Globe als beste Hauptdarstellerin eingebracht hat.

Renée Zellweger ist eine Hollywood-Schauspielerin, die von Frauen wohl mehr verehrt wird als von Männern. Und zwar seit ihrer herrlichen Verkörperung von „Bridget Jones“, der britischen Everywoman mit den alltäglichen Peinlichkeiten und Missgeschicken, den neurotischen Gewichtszu- und abnahmen und dem Hineinstolpern in gewollte und ungewollte Liebesfallen, in der sich beinahe jede Singlefrau problemlos wiederfand. Diese Filme machten Zellweger und ihr niedliches Girl-next-door-Hamsterbäckchengesicht zum Star. Dem Höhenflug folgten überwiegend mittelmäßige Unterhaltungsfilme – „Unterwegs nach Cold Mountain“, ein brutal realistisches Anti-Kriegsepos zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges mal ausgenommen.

Was für eine fantastische Performerin Zellweger sein kann, bewies sie 2002 in dem verfilmten Musical „Chicago“ an der Seite von Catherine Zeta-Jones und Richard Gere: Singen, Tanzen, Schauspielern sowieso, alles kein Problem. 2010 zog Zellweger sich für volle sechs Jahre vom Filmgeschäft zurück, angeblich aufgrund von Depressionen. Als sie wiederauftauchte, erkannte man sie nicht mehr. Durch etliche plastische Operationen sah Zellweger nicht mehr wie Zellweger aus. Für die gänzlich überflüssige Fortsetzung „Bridget Jones‘ Baby“ staffierte man sie mit einer Brille aus, damit sich die Kultfigur überhaupt noch halbwegs wiedererkennen ließ.

Und nun ist Renée Zellweger Judy Garland. Und wie! Mut zum Risiko, Mut zum alt, versoffen und verbraucht aussehen wird seltsamerweise gerade von den Filmschaffenden fürstlich belohnt, die für ein schönes Gesicht und einen schlanken, topfitten Schauspielerinnenkörper über Leichen gehen.

Das hat Judy Garland erlebt. Das hat Renée Zellweger erlebt, das erleben jedes Jahr aufs neue hoffnungsvolle Jungstars, die sich an den Nasen und den Zähnen herumfräsen lassen, die laut Vertrag auf keinen Fall mehr als 56 Kilo wiegen dürfen, die zeitlebens rigorose Diäten einhalten müssen und von dubiosen Studioärzten Happypills verschrieben und Glücklichmacher gespritzt kriegen.

Some things never change. Wie sagt die böse Stiefmütter zu ihrer Tochter, bevor sie ihr die Zehen abhackt, damit sie sich in Aschenputtels Schuh zwängen kann, um den Prinzen zu täuschen? Als Königin brauchst du nie wieder zu Fuß zu gehen!

Auch Zellweger hat Garlands Höllentrip hinter sich, und so spielt sie den alternden Ex-Kinderstar im letzten Jahr seines Lebens absolut grandios. Sehr bewegend ist die Szene, in der die Sängerin am Heiligabend niemanden zum Feiern findet als zwei ältere schwule Dauerfans, die sie zu deren grenzenlosem Entzücken in ihre Wohnung begleitet und mit ihnen dort den Abend bei einer sehr frugalen Mahlzeit nebst viel Alkohol verbringt. Das Kinopublikum scheint entsetzter zu sein, als es angebracht wäre. Egal, ob Garland dies wirklich erlebt hat – sowas kann für einen Künstler durchaus ein großer Moment im Leben sein, und wie gut solche Momente sind, das weiß man ohnehin erst viel später und oft genug ist es dann zu spät, um sie wirklich zu schätzen.

Nicht nur in Mimik und Gestik überzeugend nah am Vorbild, singt Zellweger auch jede Nummer selbst, und zwar sehr gut. Dass sie nicht wie Garland singt, kann man ihr nicht gut vorwerfen, da niemand wie Garland singt.

Alles in allem ist „Judy“ sehr sehenswert, obgleich stellenweise eine etwas müde Vorlage für ein überragende schauspielerische Leistung.

 

Früher war mehr Lametta!

Im Jahr 1910 wurde in Hamburg-Wandsbek eine Gartenstadt-Gesellschaft gegründet, deren erklärtes Ziel es war, „minderbemittelten Familien oder Personen gesunde und zweckmäßige Wohnungen“ mit Garten zu bezahlbaren Preisen zu verschaffen. Die Bautätigkeit der Gartenstadt-Gesellschaft wurde erst mit dem II. Weltkrieg beendet. 1929 wurde das Häuschen meiner Großmutter fertig gestellt, 1932 mein Vater geboren. Als er es von seiner Mutter erbte und mit Frau und drei Kindern dort  einzog, schrieb man das Jahr 1969. In Berlin tobten die Studentenunruhen, der erste Mensch landete auf dem Mond und Rudi Dutschke war die Rampensau der APO.

Als wir 1974 wieder dort auszogen, wäre „minderbemittelt“ noch ein viel zu gutes Wort für unsere Finanzen gewesen. Mein Vater, hauptberuflich Fliesenleger- und Maurermeister und nebenbei Psychopath und Teilzeit-Kettensägen-Killer, hatte seinen florierenden Handwerksbetrieb in den Sand gesetzt, weil er der festen Überzeugung war, Buchführung sei nur etwas für Kapitalistenschweine. Mit einem fatalistischen „Nun ist eh schon alles egal!“ betrieb er darüber hinaus als ehemaliger Sportruderer noch einen schwunghaften Handel mit sündhaft teuren englischen Rennruderbooten. Einmal verkaufte er sogar eines an Pete Townshend, den Gitarristen von „The Who“. Was mir in der Schule natürlich niemand glauben wollte. Die Prophetin gilt nichts im eigenen Vaterlande.

Das mitgeerbte Inventar unseres Hauses war ebenfalls aus den Zwanzigern – vieles auch um etliches älter. Die Zinkgussbadewanne stand auf vier Löwenfüßen, der Herd in der Küche war die einzige Wärmequelle des Hauses, und telefoniert wurde mit einem Apparat aus Bakelit, der heute bei manufactum rund 250.-€ kostet und gefühlte zehn Kilo wiegt. Als er einmal vom Telefontisch auf den Pitch-Pine-Boden krachte, wackelte das ganze Haus und neigte sich leicht nach Südosten. Da die sogenannte „Nostalgiewelle“ erst in den Siebzigern anrollte, hatte man in den Sechzigern noch nicht die geringsten Hemmungen, alten Plunder einfach wegzuschmeißen. „Entsorgt“ hat sowieso noch keiner was. Art-Déco-Teeservice, Jugendstil-Kommoden, unersetzliche Zeitdokumente wie die Feldpost meines Großvaters aus dem Kessel von Stalingrad, alte Puppen aus Zelluloid, Mode aus Jahrzehnten: Hau weg, die Scheiße!

Und eines Morgens erschien mein Vater ohne jede Warnung mit der Kettensäge vor dem Haus wie der schlimmste Alptraum und legte die entzückende, himmelblaue Gartenpforte um. Als nächstes musste die schöne, hohe Hecke dran glauben. Dann sämtliche Obstbäume hinter dem Haus, die einst dazu dienten, der Kriegerwitwe mit drei hungrigen Mäulern im Schlepptau das Leben ein klein wenig leichter zu machen. Alles brachte mein Vater mit wahrer Wonne um. Muss irgendwas Ödipales gewesen sein. Als er die Kettensäge weglegte, sah unser Grundstück aus, als wäre der Feuersturm über Hamburg erst jetzt darüber hinweggefegt.

Mein Vater hatte große Pläne für eine Grundstücksgestaltung: Zunächst mauerte er einen tadellosen Ascheimerbehälter (in den wirklich noch Asche gefüllt wurde!) aus bestem Klinkerstein mit Schwingtür. Er war wirklich ein hervorragender Handwerker, dazu hochgebildet. Er brachte sich selbst fließend Englisch bei und las in seiner Freizeit wie ein Süchtiger Mann, Grass und Dostojewski. Sein Problem war allerdings, dass er selten etwas zu Ende baute. Also legte er an der Stelle, wo einstmals ein hübscher kleiner Vorgarten war, einen kleinen Bauschutthaufen an und versicherte hoch und heilig, er werde ihn spätestens nächste Woche abfahren. Als wir das Haus unter Zuhilfenahme des Bettelstabs sechs Jahre später verließen, konnten wir bequem vom Esszimmer aus auf den Schuttberg steigen.

Und dennoch erinnere ich mich an einige schöne Weihnachtsfeste, die wir dort verlebten, als die Gerichtsvollzieher sich noch nicht die Klinke bei uns in die Hand gaben, als es noch Gänsebraten mit Grünkohl gab, Berge von Spielzeug unterm Weihnachtsbaum lagen und meine Mutter sogar eine Perlenkette mit Brilliantverschluss von meinem Vater bekam!

Und ja, es stimmt wirklich: Früher war mehr Lametta. Wir hatten stets einen echten Baum, mit echten Kerzen und am liebsten noch mit reichlich Wunderkerzen. Elektrolichter waren etwas für Weicheier, die Feuerversicherungsprämien rechtzeitig bezahlten und keinen Mut zum Risiko hatten. Und dazu alter Glitzerschmuck in schiefen Pappschachteln, Lauscha, echt Art-Déco, Kugeln, Zapfen und Glöckchen. Ich öffnete stets den Deckel wie Ali Baba den Sesam-öffne-dich: Hach, dieser Duft von Wachs und Tannengrün! Und natürlich jede Menge Lametta, oh geliebte hauchdünn gewalzte, hochgradig giftige und umweltschädliche Zink-Blei-Legierung; dann noch aus zweifarbigem Goldpapier geklebte und gefaltete Sterne, Ketten, Hexentreppen, ein Glitzerstern unter der Lampe und in jedem Fenster. Nur eine Familie im weiten Bekanntenkreis überraschte mit vornehmem Understatement: Eine Edel-Blautanne mit irisierenden, durchsichtigen Glaskugeln, weißen Kerzen in silbernen Haltern, einer königlich-preußischen Pickelhaubenspitze und, natürlich, Lametta. Der Baum hatte etwas unwirkliches, feenhaftes, und stets berührte ich ganz, ganz vorsichtig die zarten Kugeln, in der Erwartung, dass sie platzen würden wie Seifenblasen.

Natürlich gab es nicht immer weiße Weihnacht. Wer sowas behauptet, der lügt. Aber ich erinnere mich, dass es an einem Heiligabend Nachmittags anfing zu schneien wie im Bilderbuch: große, weiße Flocken. Als ich vor einiger Zeit „zwischen den Jahren“ Bekannte mit Eigenheim und Kindern besuchte, wurde meine Vorstellungen von den ewig gültigen Gesetzen einer glücklichen Kindheit nachhaltig erschüttert. Es hatte an jenem Tag Berge von Schnee gegeben. Aber auf dem weitläufigen Grundstück war kein Kinderfußstapfen, kein Schlitten, kein Iglu, kein Garnichts. Die Kinder hockten den ganzen Tag vor der Spielkonsole und würdigten die weiße Pracht keines Blickes. Wie traurig. Denn die ultimative Krönung von Weihnachtsferien und Weihnachtsfreuden, so dachte ich immer, sei es, wenn es obendrein noch Schnee gab. Das war wohl einmal.

Die meisten Familien schmissen sich Weihnachten in Schale, es gab Heiligabend irgendwas einfaches wie Kartoffelsalat und Würstchen und am ersten Weihnachtstag wurde wahlweise Gans, Ente oder Pute serviert, eventuell auch Sauerbraten mit Backobst nach Holsteiner Art. Fondue und Raclette kamen erst später auf. Am zweiten Weihnachtstag, den mein Vater immer „Enkel Empfängnis“ nannte, wurde bei Oma und Opa mütterlicherseits nochmal Ente oder Schmorbraten mit Unmengen von Beilagen geschlemmt. Silvester gab es unweigerlich Karpfen polnisch, mit Rotwein-Lebkuchensoße, vom Herrn des Hauses extrem unsensibel und unsentimental persönlich im Badezimmer gemetzelt. Damals war Weihnachten definitiv bunt und metallicfarben, verschwenderisch und laut, umweltschädlich, alkoholisiert und dekadent. Es wurde exzessiv das Weihnachtsfernsehprogramm genossen: Die Schatzinsel, Pippi Langstrumpf, Der Schatz im Silbersee, soviel Unterhaltsames für Kinder gab es das ganze Jahr nicht! Gab es nicht mindestens einen verdorbenen Magen und zwei Gallenkoliken und lag Herr Bohne, unser Briefträger, am Morgen des 24. nicht irgendwo hackedicht im Straßengraben, dann war irgendwas schiefgelaufen.

Glaubt man Frauenzeitschriften, dann ist die ultimative Weihnachtsfarbe heutzutage seit vielen Jahren weiß, aufgerüscht durch schwarz mit ein bisschen Tannengrün und stumpfbraunen Erlenfrüchten. Laaaaaangweilig!

Da lobe ich mir Norditalien, meine zweite Heimat: Stahlblaue Rentiergespanne. Rote Sternschnuppen. Durch Lauflichteffekte simulierte Schneefälle. Multicolor-Blinkgirlanden, die nach einigen Stunden migränine Neuralgien und epileptische Anfälle auslösen können. Jede Dorfstraße ist von glitzernden Sternendekos und den Wünschen „Auguri!“ und „Buone Feste“ erhellt. Zwei Stunden Fahrt durch die Lombardei im Dunkeln fühlen sich an wie eine psychedelische Reise durch einen Adventskalender. In einer italienischen Frauenzeitschrift käme auch niemand auf die Idee, ein veganes Feiertagsmenü mit Tofu, Süßkartoffeln und Blini anzusetzen. Stattdessen werden sieben köstliche Arten von Lasagne angepriesen und als Dessert gibt es selbstverständlich Panettone. Und gut ist. Zum Glück halten auch die Deutschen auf ihre traditionellen Raclettes, Fondues und gemästeten Gänse. Gelobt sei, was Fett macht. Familie Hoppenstedt wünscht frohe Feiertage!

Jugendtypische Straftaten

Der Siebzehnjährige Jugendliche, der in Augsburg in der Nacht von Freitag, dem 06. Dezember 2019 auf offener Straße und mit Unterstützung seiner Freunde einen 49 Jahre alten Mann mit einem gezielten Faustschlag totgeschlagen hat, ein junger Mann mit atemberaubenden drei Staatsbürgerschaften, war, wie es heutzutage leider so oft ist, polizeibekannt. Und zwar, wie zu lesen ist, durch „jugendtypische Straftaten“, in diesem Falle Drogendelikte und Körperverletzung. Dem Haupttäter Halid S. droht jetzt maximal eine Haftstrafe von zehn Jahren.

Ein Feuerwehrmann, Ehemann, Familienvater wurde totgeschlagen. Wegen nichts. Von einem Jugendlichen, der in seiner Familie und seiner ethnischen Community gelernt hat, dass Ehre alles und Gesetze nichts sind, dass Gewalt ehr- und sinnstiftend, positiv und vor allem durch und durch männlich ist.

Die gewaltfreie, konfliktabweisende Stuhlkreispädagogik deutscher Kindergärten und Schulen ist mit Sicherheit spurlos an Halid S. vorübergezogen – auch, weil er in der Familie und der Community seit seiner Kindheit Werte vermittelt sind, die denen unserer Gesellschaft diametral entgegengesetzt sind.

Man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Halid S. irre stolz auf seine Tat ist – eine deutsche Kartoffel, die mehr als doppelt so alt ist, mit einem einzigen gezielten Faustschlag zu töten, das schafft schließlich nicht jeder, ebenso seine Freunde und möglicherweise selbst die Angehörigen. Dazu hat man die Söhne schließlich erzogen – ganze Männer zu sein und nicht die geringste Kontrolle über die eigenen Impulse zu haben.

Aber das ist bedauerlicherweise nur ein Grund für das tragische Verbrechen, für den Tod eines Menschen innerhalb von Sekunden und aus völlig nichtigem Anlass, wie er heutzutage auf unseren Straßen schon völlig normal zu sein scheint. Dieses abscheuliche Verbrechen hätte rechtzeitig verhindert werden können. Denn, wie bereits erwähnt, ist Halid S. bereits polizeibekannt. Er fiel mehrfach auf durch sogenannte jugendtypische Straftaten. Denen keinerlei Konsequenzen folgten. Es wurde einem jugendlichen Straftäter also bereits mehrfach signalisiert, es sei völlig in Ordnung, Drogen zu nehmen oder mit ihnen zu handeln und Körperverletzungen zu begehen. Es hat keine Folgen, es zieht keine Strafen nach sich, es ist völlig ohne Belang.

Unternehmen wir ein kleine Zeitreise. Wir schreiben das Jahr 1978. Meine beste Jugendfreundin, nennen wir sie Amelie, ruft mich nachmittags nach der Schule an. Ihre Stimme ist kaum zu verstehen – sie flüstert beinahe.

Ich hab echt Ärger, sagt sie, ich hab wirklich totalen Mist gebaut!

Nach und nach rückte Amelie mit der Wahrheit heraus: Sie hatte eine „jugendtypische Straftat“ begangen. Und war dabei erwischt worden. Die Mutprobe Kaufhausdiebstahl im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren: Wer kannte sie nicht? Meist war es nichts als jugendlicher Übermut – mal sehen, ob man damit durchkommt. Meistens kam man. Dann kam der Gruppenzwang der Peergroup hinzu: Los, du musst auch mal. Mach schon, du Feigling. Ich wurde allerdings bald aus den Fischzügen unserer Mädchengang ausgeschlossen. Es war mir einfach auf hundert Meter Entfernung anzusehen, wenn ich ein Ding drehen wollte. Kurz: man konnte mit mir einfach nicht gekonnt klauen gehen. Ich war sogar zu blöd zum Schmiere stehen, weil meine hochrote Birne und mein nervöses Umdrehen nach allen Seiten sofort auffielen. Amelie hingegen war ein Profi. Bis zu diesem Moment.

Bei Peek & Cloppenburg hatte sie einen Pullover „mitgenommen“. Darauf hin kam der Ladendetektiv und nahm sie mit. Dumm gelaufen. Die Polizei wurde geholt und Strafanzeige erstattet.

Und nun?

Ich, die eineinhalb Jahre ältere, gab den Rat: Mensch, da gibt’s nur eins: Sag das sofort deinen Eltern. Amelie schwieg unlustig. Wenn deine Eltern die Tage die Anzeige geschickt kriegen, und die kannst du sowieso nicht abfangen (ich wusste genau, dass das ihr Plan B war), dann gibt es wirklich richtig Ärger. Also Augen zu und durch! Die werden zwar total sauer sein und rumschreien, aber die reißen dir schon nicht den Kopf ab. Und sage am besten, dass das wirklich saudoof war, dass du es nie wieder machen wirst und dass es dir schrecklich leidtut! Und dann ruf mich hinterher gleich an!

Nun musste sie also.

Es lief so, wie ich prophezeit hatte. Die Eltern machten die diebische Elster gründlich zur Schnecke und dann wartete man relativ gefasst auf die Gerichtsverhandlung. Es gab eine eindringliche Ermahnung sowie eine kleine Jugendstrafe: Sozialarbeit beim Roten Kreuz, die sich nur graduell vom Konfirmandenunterricht unterschied. Es sei gar nicht schlimm, sagte Amelie, alle seien total nett zu ihr.

Also fasse ich mal zusammen: Ein 15-jähriges Mädchen, unbescholten und noch nie polizeilich auffällig geworden, höhere Tochter aus biederer Beamtenfamilie mit hervorragender Schulbildung und bester Sozialprognose kam um eine Strafe nicht herum. Weil man ihr aus gutem Grund einen Denkzettel verpassen wollte. Und dafür sorgen, dass sowas Hirnrissiges nicht wieder vorkam.

Warum wurde dies bei Halid S. versäumt?

Nun, dafür kommen wirklich viele Gründe infrage. Zunächst kann es sein, dass der Richter seinen Kollegen zeigen will, dass er ein richtig großes Herz für Migranten hat. Es kann sein, dass man glaubte, dass Halid S. durch den korrigierenden Einfluss der Familie sowie der wohlwollenden Peergroup in Zukunft bestimmt von Drogen fernhalten und nie wieder an einer Prügelei beteiligt sein würde – seine bisherige Laufbahn sprach schließlich für nichts anderes. Es kann auch sein, dass man ihn von vornherein für ein unmündiges Kind und schwerst gebeuteltes Opfer der deutschen Gesellschaft und Leitkultur hielt, dem man auf gar keinen Fall mit noch mehr Schwierigkeiten und Ablehnung kommen darf. Dann werden die Kinder bekanntlich bockig. Es kann überdies sein, dass die beteiligte Justiz längst die 68er-Auffassung zu eigen gemacht hat, nach der „Verbote ja doch nichts bringen“ und „Gewalt nie eine Lösung“ ist.

Es war die Tragik des großen englische Pädagogen und Begründers der antiautoritären Erziehung, Alexander Sutherland Neill, dass er Zeit seines Lebens völlig missverstanden wurde. So wurde immer wieder gefragt, was er als Pädagoge denn machen würde, wenn er mit seinen Schülern in die Oper ginge und diese dort anfangen würden, herum zu lärmen. Dann würde er zu ihnen sagen: Halts Maul und geh raus, wenn dich nicht interessiert, war seine Standardantwort.

Genau das haben die 68er-Pädagogen nicht begriffen. Antiautoritäre Erziehung war nicht gleichbedeutend mit Zügellosigkeit. Doch was die Schlaghosenträger, die zu dumm und zu faul waren, ihre Kinder zu erziehen, schon versäumt haben, führen deren Kinder heute im Quadrat fort. Sie sind nicht nur zu doof und zu faul, sie wollen obendrein keine Eltern sein, sondern die besten Freunde und leiden unter panischer Angst, die Kinder könnten sie vielleicht nicht mehr lieben, wenn sie ihnen mal etwas zu verbieten wagen.

Unsere Elterngeneration wusste noch: Verbote bringen durchaus was. Sie nicht zu beachten, muss Konsequenzen haben. Bleiben die Konsequenzen aus, dann braucht es auch keine Verbote. Bei Halid S. blieben die Konsequenzen aus. Man hat ihm nicht einmal ansatzweise die Chance gegeben, bei sich selbst irgendein Fehlverhalten zu erkennen. Und jetzt ist ein Mensch tot.

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Anal, oral, vaginal

 

 

Drei Piktogramme: Eine männliche Figur, die hinter einer weiblichen kniet und diese an den Hüften festhält. Darunter steht: Anal. Eine weibliche Figur, die vor einer männlichen kniet, den Kopf in Schritthöhe. Darunter steht: Oral. Eine weibliche Figur, die auf dem Rücken liegt, die Beine über den Schultern der männlichen. Darunter steht: Vaginal.

Und über den drei Piktogrammen: Hier herrscht Kondompflicht!

Hätte die Tür heute nicht sperrangelweit aufgestanden, hätte ich nie die Tafel mit den drei Piktogrammen gesehen. Und so nicht bemerkt, dass ich in meiner Nachbarschaft schon tausend Mal an einem Bordellbetrieb vorbeigekommen bin.

Seit einem Jahrzehnt wird die Zahl der Männer, die an einem Tag in Deutschland eine Prostituierte aufsuchen auf 1 bis 1,2 Millionen geschätzt. Kann gar nicht sein, hört man oft genug. Besonders von Männern. Männer kennen in der Regel keine anderen Männer, die ins Bordell gehen. Der Freier, das unbekannte Wesen. Im Puff bei mir um die Ecke gibt es sie jedenfalls. In der Regel tagsüber. Ein bildhübscher junger Mann verlässt ihn gerade. Hat er das nötig? Ja, hat er wohl. Anal, oral, vaginal?

Ein andermal ein Mittfünfziger mit Bauch und Glatze. Er will wissen, ob Tina da ist. Anal, oral oder vaginal?

Sehr viele Prostituierte haben sogenannte Stammfreier. Sehr viele Prostituierte berichten davon, dass Stammfreier das Warenverhältnis bis zur Schizophrenie verkennen und darauf drängen, die Prostituierte auch privat treffen zu dürfen, ganz harmlos, ohne Sex, nur zum Spazierengehen oder Eis essen.  Und sind entsetzt, schockiert, am Boden zerstört, wenn die Prostituierte Nein sagt. Oder: O.K., aber selbstverständlich nur gegen Bezahlung. Kaufen Männer eben doch die ganze Frau und nicht nur anal, oral oder vaginal?

Natürlich können die meisten Freier nicht zugeben, Freier zu sein. Nicht einmal vor sich selbst. Und mit Fremdgehen, mit Betrug an der Partnerin hat es schon gar nichts zu tun. Man könne der Partnerin ja sagen, man ginge zur Massage. Sowas kann man in Männermagazinen lesen. Das ist die Logik von Kleinkindern, die glauben, es sei in Ordnung, an das Keksglas zu gehen – solange Mutti es nicht mitkriegt. Ehemalige Prostituierte berichten, dass nach ihrer Schätzung etwa sechzig bis siebzig Prozent ihrer Kunden in festen Beziehungen leben. Jede Prostituierte kennt daher ihre Rechtfertigungssermone auswendig:

Ich finde das ja auch nicht gut, aber was soll ich denn machen. Meine Frau ist schwanger. Meine Frau ist nach der Schwangerschaft total aus dem Leim gegangen. Früher war sie so schlank und sexy. Meine Frau interessiert sich kaum noch für Sex, seit die Kinder da sind. Meine Frau mag nun mal nicht anal penetriert und gleichzeitig gewürgt werden, die ist da halt ziemlich verklemmt.

Deshalb gehen sie zu Prostituierten.

In den sozialen Netzwerken wird in letzter Zeit immer öfter und immer heftiger die Einführung des „Nordischen Modells“ diskutiert.

Auch dort reden grundsätzlich keine Freier mit. Im Gegenteil, die Diskutanten sind ausschließlich selbstlose Gutmenschen, denen vor allem die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen am Herzen liegt. Also der Frauen, die sich sexuell dahingehend selbst bestimmen, dass sie sich freiwillig prostituieren. Die könne man doch nicht in die Illegalität abdrängen! Da seien sie doch nicht geschützt! Und überhaupt: Wer soll die armen Behinderten dann sexuell befriedigen?

Das ist die klassische Freierargumentation gegen das Nordische Modell.

Wären sie ehrlich, dann würden sie sagen: Verdammt, ich bin ein Kerl, und wir haben nun mal einen wahnsinnig starken Sexualtrieb, und der muss befriedigt werden, und dafür müssen Frauen zur Verfügung stehen, denn sonst explodieren uns die Eier oder wir müssen leider losgehen und Frauen vergewaltigen.

Warum sagt das nie einer? Warum versteckt man sich hinter den Behinderten? Einesteils natürlich aus Behindertenfeindlichkeit. Denn dass Behinderte automatisch unfähig seien, ein Sexualleben zu haben, ist nichts als ein behindertenfeindliches Vorurteil. Andererseits natürlich aus Feigheit.

Aber Gemach. Sie reden durchaus auch mal Klartext. Natürlich nicht in den sozialen Netzwerken. Dafür aber in den Freierforen. Dort bewerten sie Prostituierte, geben Empfehlungen ab und schildern ihre Puff-Heldentaten. Ich schätze die Freierforen. Vor allem als Soziologin, die weiß, dass Probanden in der offenen Interviewsituation ständig lügen. Anonym im Forum hat das niemand mehr nötig, und, wie schon Goethe seinen weisen Mephistopheles in Faust sagen ließ: „Gib nur erst acht, die Bestialität/ Wird sich gar herrlich offenbaren.“

So bei Freier LLCool:

„Ich komme jetzt in deinen Mund – kurzer fragender Blick. Ich ficke sie oral mit kurzen Stössen. Bitte Bescheid sagen sonst schlucke ich alles. Wieder vor das Bett gestellt, da hat sie einen besseren Winkel um es zu kontrollieren. Und der Orgasmus rollt an, jetzt muss sie den Tribut zollen und ich fülle Ihr den Mund. No mercy, kein Zurückziehen. Boom, sie rauscht zum Whirlpool, spuckt die Nachkommen rein und lächelt. Ich hätte fast gekotzt so viel war das. Jetzt grinse ich. Bedanke mich, Küsschen.“

Muss man das kommentieren? Ich glaube nicht.

Warum machen Männer sowas, und warum schreiben sie es obendrein noch auf? Na, weil sie es können und weil sie es dürfen. Prostitution ist eine ganz, ganz wunderbare Sache und irgendwie schaffen Freier es auch immer grundsätzlich und unter allen Umständen, sich die Prostituierten herauszupicken die absolut freiwillig und selbstbestimmt arbeiten, die „ihr Hobby zum Beruf gemacht haben“, wie die ehemalige Prostituierte Huschke Mau, jetzt Aktivistin zur Abschaffung von Prostitution und Durchsetzung des Nordischen Modells, oft genug erlebt hat. Sie berichtet auch, dass Freier selbstverständlich wissen, in welcher Zwangslage die meisten Prostituierten arbeiten; wissen, dass nebenan der Zuhälter sitzt und abkassiert; sie wundern sich sogar sehr, wenn die Prostituierte gar keinen „Chef“ hat. Sie wissen es, und es ist ihnen egal.

Ich hatte siebzehn Jahre lang ein Tanzstudio neben der Hamburger Reeperbahn. Ich hatte immer wieder ehemalige und aktive Prostituierte unter meinen Schülerinnen. Jede einzelne prostituierte sich freiwillig. Eine, um auf diesem Wege freiwillig die Schulden abzuackern, die ihr flüchtiger Exmann hinterlassen hatte. Eine, weil sie in diesem Bereich seit über zehn Jahren arbeitete und sich keine Perspektive mehr bot als Sozialleistungen. Wo sollte sie sich bewerben, mit „1995-2005 Prostituierte in einem Hamburger Laufhaus“ im Lebenslauf? Eine dritte prostituierte sich freiwillig für den „Loverboy“ aus dem Libanon, dem Armen, der hier niemanden hatte und der so hoch verschuldet war. Früher hieß das schlicht Zuhälter. Warum man die „Loverboy-Masche“ überall als etwas Neues beschreibt, ist mir ein Rätsel. So machen Zuhälter seit Jahrhunderten Frauen gefügig – durch ein vorgespieltes Liebesverhältnis. Psychisch auffällig waren sie alle, und sie ertrugen oft in ihrem Privatleben absolut keine Männer mehr. Übrigens ein sehr häufiger Kollateralschaden der Prostitution. Und bestimmt nicht der Schlimmste.

In Berlin machen jetzt die neuen Bioplumpsklos/Verrichtungsboxen für Prostituierte von sich reden.

„Barbara König (SPD), Staatssekretärin für Gesundheit und Gleichstellung verkündete die News. „Die Bio-Toiletten im Kurfürstenkiez werden gut als Verrichtungsorte angenommen.“ Soll heißen: Neben der Toilettenfunktion wird in den Holzbuden auch Geschlechtsverkehr vollzogen. Entlang des Strichs rund um die Kurfürstenstraße wird die Zahl der Klohäuschen deshalb nun auf fünf erhöht.

Die Toiletten sind Teil eines Maßnahmenpakets des runden Tisches Sexarbeit. Das unregelmäßig tagende Gremium ist mit Angehörigen von Senat, Bezirken, Polizei, Beratungsstellen und Sexarbeitenden besetzt. Die Aufgabe ist im Koalitionsvertrag definiert: Handlungskonzepte entwickeln, um die Rechte und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter*innen zu verbessern.“

Ich schätze auch die Berliner Spermatoiletten und Barbara König, die Staatssekretärin für Gesundheit und Gleichstellung. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich die Freierforen schätze. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der man meint, Prostituierten etwas Gutes zu tun, indem man sie in stinkende Scheißhäuser zur Verrichtung abschiebt, offenbart schonungslos, wo sich Prostituierte in unserer Gesellschaft wirklich befinden. Wer sich über die Berliner Verrichtungstoiletten aufregt, hat nichts begriffen. Das Benutzen eines menschlichen Körpers gegen Geld wird nämlich nicht dadurch in irgendeiner Weise besser, dass es im Adlon für 600.- € an einer Escort-Lady stattfindet, dass der Prostituierten vorher Champagner spendiert wird, dass man ihr aus dem Mantel hilft. Benutzt wird sie trotzdem.

 

 

 

Seelenvögel und Wächterinnen

Gabriele von Lutzau: Mutter zweier Kinder. Ehefrau. Katzenliebhaberin. Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. Der größte Rolling-Stones-Fan des Odenwaldes. Ehemalige Flugbegleiterin. Und am heutigen Tage vor allem Bildhauerin. Ihre Ausstellung „Seelenvögel und Wächterinnen“ wurde am 20.10.2019 in der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen nach einem ökumenischen Gottesdienst eröffnet. Die bodenständige, lebhafte Künstlerin widmete sich mit Enthusiasmus mehr als eine Stunde lang allen Publikumsfragen, stellte die Grundzüge ihre Arbeit vor, schilderte persönliche Motivation und die Entstehungsgeschichte ihrer Werke.

Ihre von Alberto Giacometti und Trak Wendisch beeinflussten Skulpturen finden im weißgetünchten Seitenschiff der über siebenhundert Jahre alten gotischen Katharinenkirche ausgreifenden Raum, der die Blicke frei schweifen lässt. Ihr Werk „Utöya“, über 70 schlanke, himmelwärts strebende Plastiken von wunderbarer Leichtigkeit und Filiangranhaftigkeit, nennt die Künstlerin „Seelenvögel“.

Geschaffen wurden sie in Gedenken an die Opfer des rechtsextremen Attentäters Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 das Feuer auf ein Sommerferienlager auf der norwegischen Insel Utöya eröffnete, in dem sich derzeit über fünfhundert Jugendliche aufhielten.

Auch das Werk einer Mutter, die sich vergegenwärtigt hat, dass das Schlimmste, wenn ein Kind aus den Ferien nach Hause kommt, mitnichten eine ungewollte Schwangerschaft sein muss. Das Schlimmste ist, wenn das Kind nie mehr zurückkommt. Die Bitterkeit des Todes, die Zerbrechlichkeit jungen Lebens, aber auch das notwendige Loslassen, all das liegt in den beinahe schwerelosen Standbildern, deren konkrete Vogelformen sich dem Betrachter nach und nach offenbaren.

Mit dem Angebot, das Gesamtkunstwerk „Utöya“ auf der gleichnamigen Insel auszustellen, gemeinsam mit Überlebenden, Angehörigen und Politikern die unumgängliche Trauerarbeit zu leisten und ein Zeichen gegen Terror jedweder Couleur zu setzen, ist Gabriele von Lutzau in Norwegen schlichtweg aufgelaufen. Man bräuchte keine Deutsche dazu, Trauer zu lernen, hieß es brutal.

Mehr Entgegenkommen, wenn auch anderer Art, fand die Arbeit von Lutzaus in Yad Vashem, der Shoa-Gedenkstätte des Staates Israel in Jerusalem. Auch dort war man zunächst misstrauisch über das Anerbieten einer deutschen Bildhauerin, dem Museum zwei Plastiken anzufertigen – ohne Vorschuss, ohne Bezahlung, ohne Honorar, einfach, weil es der Wunsch der Künstlerin war, ein Anliegen auszudrücken, Gefühle sichtbar zu machen. Bildwerke, die sich wie ein roter Faden durch die Arbeiten Gabriele von Lutzaus ziehen: Flügel. Zwei Vogelschwingen. Gabriele von Lutzau schafft ihre Skulpturen mithilfe von Kettensägen und Flammenwerfern. Aufgehängt, installiert wie Trophäen eines Jägers, hängende, abgerissene, gebrochene Flügel scheinen es zu sein, verstörend in ihrer Größe und Präsenz. In Jerusalem wusste man im Gegensatz zu Norwegen alles über Gabriele von Lutzau, was es zu wissen gab, eine fingerdicke Akte über sie war bereits angelegt, mit dem Ergebnis, dass der Ausstellung eines Werkes der Künstlerin nicht das geringste entgegenstand. Das hätte man in Norwegen vielleicht auch mal versuchen sollen.

„Leben und Überleben“, dieses Motto steht über ihrem künstlerischen Gesamtwerk. Nicht ohne Grund. Wie eingangs erwähnt, war Gabriele von Lutzau in ihrer Jugend Flugbegleiterin. Nicht irgendeine. Sondern die Lufthansa-Stewardess der „Landshut“, die im Oktober 1977 fünf Tage lang Terror und Todesangst ertrug, die die kaltblütige Ermordung des Flugkapitäns Jürgen Schumann erleben musste, die mitansehen musste, wie man die Ladungen für die Sprengung der Maschine anbrachte, wie man Besatzungsmitglieder und Passagiere fesselte und mit Alkoholika übergoss, damit sie besser und schneller verbrennen sollten.

Vierzehn Jahre war ich damals alt. Der Terror der RAF begleitete meine Generation über Kindheit und Jugend hinweg, war immer ein Thema. Gabriele von Lutzau, damals noch Gaby Dillmann, eine junge Frau, gerade mal neun Jahre älter als ich: Das war endlich mal ein Vorbild, von dem man sich ein paar Scheiben abschneiden konnte.

Eine Heldin aber will sie deswegen nicht genannt werden.

„Wir hatten damals, die ganzen fünf Tage lang, wirklich Glück. Richtig viel Glück!“ sagt Ausstellungsbesucher Jürgen Vietor zu mir, damals der Co-Pilot der Landshut. „Und wir hatten Ulrich Wegener und die GSG 9. Wenn überhaupt, dann waren wir alle Helden, die Passagiere genauso wie wir alle!“

Die Ausstellung „Seelenvögel und Wächterinnen“ ist noch bis zum 25.11.2019 zu bewundern.

Bloody poetry

Beim Poetry-Slam U20 In Frankfurt am 10. Mai dieses Jahres gewann die achtzehnjährige Malvina Ewering den 2. Platz für ihren Text „Schwarzer Boden“. Ihre Wortschöpfung Gedicht zu nennen, wäre übertrieben, denn ein Versmaß fehlt zur Gänze und gereimt wird mehr nach Stimmung; „passt“ auf „hass‘“ und sogar „passiert“ auf „stiiirbt“, aber beim Poetry-Slam geht es, soweit ich weiß, nicht um Talent oder gar germanistische Vorbildung, sondern darum, dass alle sich ausdrücken dürfen und unheimlich kreativ sind.

Der Text der jungen Frau ist Entschuldigung und Anklage zugleich: Um einen männlichen Flüchtling geht es nämlich, der selbst angeblich vom Schleuser vergewaltigt, nun selbst zum Vergewaltiger wird.

„Ich hab‘ mich doch nur in dich verliebt/ Doch Du steckst ihn weiter tief härter in mich rein, dein Glied…“ heißt es in der seltsamen Anklage, die mit einem „Danke, Vergewaltiger!“ endet.

Nun wäre diese Darbietung an und für sich schon schwer zu schlucken – wenn Malvina Ewering nicht schon einer breiten Öffentlichkeit bekannt wäre als die glückliche Vorzeigefreundin eines einsamen syrischen Flüchtlings.

Im Kinderkanal unter dem Titel „Malvina, Diaa und die Liebe“, damals noch ganze Fünfzehn und bis zur Debilität verliebt in den Syrer Diaa, der ihr in seinem unbeholfenen Deutsch unheimlich süße Briefe schrieb. Dass er bereits sein Veto eingelegt hatte, was andere Männerbekanntschaften und Miniröcke anging, war eine andere Sache. Dass er ihr verbot, Schweinefleisch zu essen und ihr anriet, zum Islam zu konvertieren, eine weitere. Dann stellte sich rasch heraus, dass hier ein erwachsener Mann mit dem Segen der Nation und ihrer Medien ein Minderjährige verführt hatte. Darüber hinaus wurde entdeckt, dass Diaa ohnehin vorhatte, ganz Deutschland zum Islam zu bekehren, wie er auf facebook geäußert hatte.

Ein Schwiegersohn also, wie ihn sich Mütter nachts erträumen.

Jeder, aber wirklich jeder, der in der Lage ist, zu googeln, kann heute wissen, was Malvina in der Gesellschaft, aus der Diaa stammt, wert wäre: Eine Hure, eine Schlampe, wertloser als Dreck. Und mit Dreck kann man natürlich machen, was man will. In Syrien hätte praktisch jeder dafür Verständnis.

Kaum war das Video von Malvina Ewerings Poetry-Slam-Auftritt online, als Kika schon zu Protokoll gab, die Autorin berichte hier keinesfalls von selbst erlebten Erfahrungen. Dabei war Kika mehr als still, als ich vor einigen Monaten vorsichtig nachfragte, was denn inzwischen aus dem glücklichen jungen Paar geworden sei. Wünschen würde man es ihr von ganzem Herzen. Aber wer einmal in irgendein beliebiges Mädchenforum geschaut hat, wo die rosagewandeten, Einhorngeschmückten Nymphen von Oralverkehr mit dreizehn und Analverkehr mit fünfzehn berichten, wo sie zum ersten Mal anonym von der Vergewaltigung durch ihre beiden besten Freunde berichten und wo die sexuelle Gewalt so alltäglich ist, dass sie von den jungen Frauen sogar als relativ normal wahrgenommen wird, der wird hier seine berechtigten Zweifel haben müssen.

 

Tickende Zeitbomben

 

Ein Afghane tötet seine Ex-Freundin mit nicht weniger als siebzig Messerstichen. In einem harmlosen Stuttgarter Wohnviertel wird ein Mann mit einem japanischen Schwert von seinem Mitbewohner regelrecht gemetzelt. In Hamburg wird ein Asylbewerber von einer Frau in einer Bar zurückgewiesen, daraufhin schlägt er sie auf er Toilette tot und setzt sich anschließend wieder an den Tresen, um weiter zu trinken. Nach einem Streit in einer Flüchtlingsunterkunft schlägt ein Eritreer einen Landsmann so schwer, dass dieser an den Verletzungen stirbt.

Und so weiter und so fort. Die Schreckensbilanz von wenigen Tagen.

„Unfassbar“, so liest man immer wieder, unvorstellbar, unerklärlich. Und tatsächlich sucht man immer wieder nach „Motiven“, als gebe es allen Ernstes nachvollziehbare Gründe dafür, einen Menschen wegen einer Nichtigkeit tot zu prügeln. Wir können diese Motivation nicht nachvollziehen, und das ist gut so. In anderen Gesellschaften, in anderen Kulturen in anderen Teilen der Welt ist das zuweilen vollkommen anders.

Und wir sind gezwungen, dass endlich mal zu kapieren.

Als der Psychologe Nicolai Sennels bei seiner Arbeit in Kopenhagener Justizvollzugsanstalten feststellte, dass sich die psychische Struktur von muslimischen Strafgefangenen fundamental von der der nichtmuslimischen unterscheidet, veröffentlichte er die Ergebnisse in seinem Buch „Blandt kriminelle Muslimer“ (Unter kriminellen Muslimen). Erwartungsgemäß stieß er auf Ablehnung und Unverständnis und geriet augenblicklich in den Verdacht, ein „Rassist“ zu sein.

Denn es kann einfach nicht sein, was nicht sein darf. Was nicht ins Weltbild passt, muss passend gemacht werden. Und wenn die Fakten noch so sehr dagegen sprechen.

Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam die Soziologin Necla Kelek, als sie für ihr Buch „Die verlorenen Söhne“ türkische Häftlinge interviewte. Ihre Eltern, ihre Familien seien stolz auf sie, sagten viele von den jungen Männern, die wegen Drogenhandel, Gewaltdelikten und anderen Verbrechen langjährige Haftstrafen zu verbüßen hatten.

Und das ist leider nicht gelogen. Sie sind mitnichten gezwungen, sich ihre Biographie schön zu lügen. Muslimische Jungs sind die Prinzen der Familie. Man muss sich nur mal die glitzernden Fantasie-Uniförmchen in den türkischen Geschäften ansehen, mit denen die Jungen am Tag ihrer Mannwerdung, der Vorhautamputation, bekleidet werden. Wer es noch nicht weiß: Vor den Schmerzen der Beschneidung wird den Jungen gern gezielt Angst gemacht. Erstens gilt das als irre lustig und zweitens gehört das dazu: Ein richtiger Mann muss Schmerz aushalten können.

Die muslimische Mutter verhätschelt und verzieht den Knaben nach Strich und Faden und liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Seine Bedürfnisse haben Vorrang vor denen der Schwestern, sein Ego wird maßlos überhöht, es werden ihm Fähigkeiten angedichtet, die er gar nicht besitzt, sein Wille geschehe, jetzt und immerdar.

Flüchtlingshelferinnen haben mir berichtet, wie fassungslos sie waren, als sie in den Unterkünften miterleben mussten, wie Mädchen alles verboten wurde, während sich die Jungs aufführen durften wie die Wildsäue. Mütter seien stolz und glücklich gewesen, wenn das Prinzchen Möbel zerstörte, Mädchen beleidigte und drangsalierte, anderen Süßigkeiten und Spielzeug klaute und ihnen obendrein noch die Faust ins Gesicht hieb. Mein Sohn! Wallah, ein richtiger Mann!

So werden die Mini-Paschas zu erwachsenen Männern. Von der psychischen Reife her allerdings sind sie noch Kleinkinder, sie verharren im frühkindlichen Narzissmus und dem Wahn ihrer eigenen Allmächtigkeit.

Klinisch nennt sich diese psychische Störung Narzisstische oder auch Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Die Grenze ist fließend. Menschen dieser psychischen Struktur zeichnen sich durch Allmachtsfantasien sowie völlige Unfähigkeit zur Selbstkritik aus, durch mangelnde Impulskontrolle und schnelle Gewaltausbrüche, durch nicht vorhandene Empathiefähigkeit und die Unfähigkeit, irgend etwa anderes wahrzunehmen als die eigenen Bedürfnisse. Eltern von Dreijährigen werden die Symptome sofort wiedererkennen. Der Mörder der fünfzehnjährigen Susanna war dafür ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch.

Tritt in der Welt der Dissozialen Persönlichkeit eine Störung ein, wird diese als fundamentale Bedrohung, als Erschütterung des ganzen Seins empfunden. Den eigenen Willen nicht zu bekommen, ist für den Menschen mit dieser psychischen Struktur schier unerträglich. Gerät ein erwachsener Mensch ohne diese psychische Störung in eine Krise, erfährt er zum Beispiel einen großen Vertrauensbruch, eine persönliche Schädigung, eine emotionale Kränkung wie eine Zurückweisung oder den Verlust des Partners, so kann man davon ausgehen, dass er psychisch so aufgestellt ist, diese Krise aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer zu bewältigen.

Einer Person mit dissozialer Persönlichkeit ist das nicht möglich. Die Störung muss vernichtet werden: Totgeschlagen, totgestochen, totgeschossen. Störung beseitigt, Problem beseitigt.

Was auf uns hochgradig psychisch auffällig wirkt, hat allerdings in anderen Ecken des Planeten jedes Verständnis dieser Welt: So reagiert eben ein richtiger Mann.

Man muss leider davon ausgehen, dass die Mehrheit der jungen Männer, die nach Europa strömen, in diesem Sinne herangewachsen ist. In ihrer Heimat werden die zwischenmenschlichen Probleme nicht mit wie Wackeldackel nickenden Sozialpädagogen in Stuhlkreisrunden gelöst, sondern gern mit Mitteln, die als ehrenvoll, sinn- und identitätsstiftend, positiv und vor allem durch und durch männlich gelten: Mit Gewalt.

Dem noch halbwegs regulierendem Einfluss des Clans, den männlichen Familienmitgliedern, der Umma sind sie hier weitgehend entzogen. Kein Imam droht ihnen mit der Hölle, wenn sie Drogen nehmen, Alkohol konsumieren und Sex mit ungläubigen Frauen haben.

Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes außer Kontrolle. Es sind Abertausende von tickenden Zeitbomben. Nichts und niemand kann verhindern, dass sie hochgehen.

 

 

 

 

 

 

 

„Schatz, wir werden reich!“ von Gideon und Christine Böss

Als einmal eine Bekannte von mir ziemlich trübe aus der Wäsche sah, machte ich den Fehler, sie zu fragen, wo denn der Schuh drücke. Ach, ihre Tochter, die hätte ja wieder so einen Ärger. Riesen-Ärger!

Was für einen Ärger?

Na, sie hätte ja jetzt schon zum zweiten Mal ein Auto gewonnen und wieder Mal weigerte man sich strikt, ihr den Wert des Wagens einfach in Geld auszuzahlen!

Die Tochter, wohlgemerkt, war einst Bikinimodel und hat bei der Arbeit einen Millionär kennengelernt. Ihren jetzigen Mann. Sie muss erfreulicherweise nicht arbeiten und wenn sie sich mal langweilt, was ziemlich oft der Fall ist, macht sie bei Gewinnspielen mit. Und sie gewinnt. Andauernd. Eine Traumreise in die Karibik hat sie auch schon gewonnen. Und mehrere Geldbeträge.

Fortuna ist bekanntlich die antike Glücksgöttin. Diese Bitch muss gleichzeitig PMS, ADHS und Menopausebeschwerden haben. Denn anders ist einfach nicht zu erklären, warum sie auf ihrer goldenen Schicksalskugel bei sorgenfreien Ex-Models wie ein Meteor einschlägt und pausenlos Glück verschüttet, aber wirklich bedürftige Zeitgenossen höhnisch grinsend beiseite kegelt.

Wie das sympathische Paar Gideon und Christine Böss.

Das schließlich auch nur über die Runden kommen will. Bei Künstlern ist das in der Regel nicht so leicht – Tänzer, Karikaturisten, Musiker, Maler, Schriftsteller – wir alle werden oft gefragt: Ja, kann man denn davon leben? Was noch harmlos ist, denn meist wird man gleich gefragt, ob man auch noch einen „richtigen“ Beruf hat. Man wurstelt sich halt so durch. Das ist der Lifestyle der Bohème.

„Schatz, wir werden reich! (vielleicht). Ein Paar und zwanzig Anläufe zum großen Geld“, so heißt das neue Buch der beiden Autoren. Und lädt ein zu einer Glücksritterreise der besonderen Art.

Wie kommt man zu Geld, am besten möglichst ganz viel davon, wenn man in der Ausgangslage keines hat?

Das Ehepaar lässt auf diesem Sektor wirklich nichts unversucht: Pferdewetten (scheinen noch am realistischsten zu sein), Empowerment-Seminare, wo man als „Huhn“ anfängt und als „Adler“ endet, Kunstkäufe, Investment in erneuerbare Energien, ja sogar Schatzsuche! Der Möglichkeiten sind viele, nur einträglich sind sie nicht.

„Ich habe an mehr als zweihundert Preisausschreiben teilgenommen, daraufhin 8943 Mails bekommen und nicht einmal einen Trostpreis erhalten“ resümiert Gideon Böss.

Als das geht runter wie ein kühler halber Liter Rieslingschorle bei 30° und ist amüsant und unterhaltsam wie eine gute Filmkomödie.

„Die kapitalistische Versprechung, dass jeder reich werden kann, führt überraschend schnell von der breiten Hauptstraße auf holprige Seitenstraßen und von da auf unbefestigte Wege, die sich in der Wildnis verlieren“. Leider ja.

 

 

https://www.lovelybooks.de/autor/Gideon-B%C3%B6ss/Schatz-wir-werden-reich-vielleicht-1974346485-w/

Flüchtlingsidyll

„Geschichte wiederholt sich, wenn wir nicht daraus lernen“. Der uns das sagt, ist Hussam Al Zaher, Chefredakteur des Magazins „Flüchtling“ www. Fluechtling-magazin.de und 2017 „Hamburger des Jahres“ im Stadtmagazin „Szene“.

Hussam Al Zaher verließ Syrien 2014, weil er nicht zur Armee eingezogen werden wollte und hielt sich danach ein Jahr in Istanbul auf, was ihn zu einem Auswanderer, nicht aber zu einem Flüchtling macht.

Und was will uns Hussam Al Zaher damit sagen?

Etwa folgendes: Wenn Deutschland weiterhin Waffen in Konfliktgebiete liefert, den „Friedensprozess“ in Nahost nicht unterstützt; wenn Deutschland sich weigert, Schlepperbanden mit Kapitäninnen auf Selbsterfahrungsdampfern im Mittelmeer zu reich zu machen und die Deutschen nicht endlich damit aufhören, sich über Kopftuchtragende Musliminnen aufzuregen, dann wird sich unsere Geschichte wiederholen. Adolf Hitler wird wieder Reichskanzler, von deutschem Boden wird wieder Krieg ausgehen und der FC St. Pauli wird Drittligaletzter.

Das Magazin „Flüchtling“, in einfacher Sprache gehalten, erzählt Erfolgsgeschichten von geflüchteten Menschen (ich lasse das jetzt mal undefiniert so stehen). So wie von Omar, der jeden Tag acht Stunden Deutsch lernt und dann erschöpft ins Bett fällt; von Amman aus Eritrea, der beim lebensrettenden Sprint zum Schlauchboot zwar sein Hochschulzertifikat, nicht aber sein IPhone verloren hat und sogar von einem echten „Republikflüchtling“, denn natürlich sind wir alle ein bisschen Refugee.

Moralisch stark unterstützt wird das Blatt durch den Anzeigenkunden fritz-kola, dem politisch korrektem Zuckergesöff für den guten Deutschen, der zwar seine gesamte Kultur, Mode und Freizeitgestaltung den bösen USA verdankt, aber aus pseudointellektuellen Gründen auf den imperialistisch-monopolkapitalistische Heuschreckentrank Coca-Cola verzichten muss.

Fritz-kola gibt den Geflüchteten auf dem Flaschenetikett ein Gesicht, zum Beispiel dem kleinen Muhi aus Gaza. Muhi leidet an einer unheilbaren Krankheit, um derentwillen er seit vielen Jahren unentgeltlich in einem israelischen Krankenhaus behandelt wird. Damit er nicht so allein ist, darf auch sein Opa mit dabei sein. Warum fritz-kola diesen Fall als besonders dramatische Flüchtlingstragödie aufzeigt, hat sich mir bisher nicht erschlossen.

Im Interview mit der „Szene Hamburg“ äußerte Al Zaher in Bezug auf die im „Flüchtling“ veröffentlichten Interviews völlig wahrheitsgemäß: „Wir stellen immer dieselben Fragen – spannend sind die unterschiedlichen Antworten.“

Spannend wären allerdings eher mal unterschiedliche Fragen. Zum Beispiel, warum mehrere weibliche Refugees erzählen, sie genössen es, endlich Fahrrad fahren und schwimmen gehen zu können. Da kann ich adäquat aushelfen: In den muslimischen Landstrichen dieses Planeten gilt Fahrrad fahren für Mädchen als hochgradig sittenwidrig, da dadurch ja das kostbare Jungfernhäutchen beschädigt werden könnte. Und was das wiederum für das Mädchen für üble Folgen haben könnte, darüber erfahren wir nichts. Auch nicht darüber, warum es für orientalische Frauen in ihrer Heimat fast unmöglich ist, mal irgendwo in Ruhe im Badeanzug schwimmen zu gehen.

Die Antwort ist die gleiche: Die Ehre der Umma, des Clans, der Familie, vor allem aber die Ehre der Männer stünde auf dem Spiel. Oder warum fragt man Omar und Amman nicht mal, was sie davon halten würden, wenn ihre Schwestern mit vierzehn Jahren die Pille nehmen und mit dem Sexualpartner ihrer Wahl schlafen dürften, so wie deutsche Mädchen? Wenn ich jetzt ganz böse wäre, würde ich schlicht behaupten: Man tut das aus gutem Grund nicht, weil man das kuchengute Flüchtlingsidyll nicht zerstören darf.

Das Cover von „Flüchtling“ ziert eine glücklich syrische Kleinfamilie. Die Frau trägt ein Kopftuch. Das ist immer gut, das Kopftuch. Bunt ist immer da, wo die Frauen verschleiert sind. Fürchterlich, was diese deutschen Weiber Kopftuchtragenden Frauen immer für „dumme Fragen“ stellen! Aber immerhin, die blöden Deutschen sind lernfähig: „Im Winter sagen sie, sie wollen auch ein Kopftuch!“, konstatieren zwei syrische Schwestern im Interview. Na bitte, geht doch. Vielfalt ist immer da, wo Frauen Menschen zweiter Klasse sind.

1986 rief der Deutsche Gewerkschaftsbund die Aktion „Mach meinen Kumpel nicht an!“ ins Leben. Es sollte eine Aktion gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sein. Doch damals gab es tatsächlich noch den einen oder andere Linken, der sich der uneingeschränkt verordneten Solidarität schlicht verweigerte. So hieß es damals aus taz-Kreisen: Ein Typ, der seine Frau und Kinder schlecht behandelt, ist nicht mein Kumpel.

Von den heutigen Linken, die Marx von Murks nicht unterscheiden können, kann man so viel gezielte Reflexion und Kritikfähigkeit nicht mehr erwarten. Der Grund dafür liegt in den neulinken Kardinaluntugenden Feigheit, Blödheit, Ignoranz und Toleranzbesoffenheit. Das Kopftuch ist toll, bunt, emanzipatorisch und vielfältig. Punkt.

Wenn ich jetzt im Hochsommer diese muslimischen Pärchen auf der Straße sehe, wo Er als europäischer, weltoffener Hipster in Shorts, Hilfiger-Shirt, Sandalen und Ray-Ban herumstolziert, während Sie unter fünf Meter billigem schwarzem Nylon dem Hitzschlag ausgesetzt wird, dann möchte ich als gute Alt-Linke dem Mann eigentlich nur noch ganz politisch unkorrekt einen großen Ziegelstein in die Fresse hauen.

Ich darf sowas sagen, ich komme aus der Arbeiterklasse. Bei uns Proleten wird Klartext geredet. Und, um es mal ganz offen zu sagen: Von unsolidarischen Handaufhaltern halten wir genauso wenig wie von Monopolkapitalisten.